Verbale Abrüstung dringend geboten – De Ridder im Dialog zu deutsch-türkischen Beziehungen

Nordhorn. Die SPD-Bundestagsabgeordnete Dr. Daniela De Ridder lud ein zu „De Ridder im Dialog“ zum Thema der deutsch-türkischen Beziehungen. Gastreferent war Caner Aver; er ist Experte für Integration und Migration und referierte zu Geschichte und aktuellen Entwicklungen in der Türkei. Vortrag und Diskussion zeigten die komplexen Verbindungen und vermieden einseitige Schuldzuweisungen. De Ridder appelliert an die rasche Freilassung der deutschen Inhaftierten in der Türkei.

Aver veranschaulichte in seinem Referat die aktuellen Entwicklungen in der Türkei und zeigte auch deren Konsequenzen für die rund 2,8 Millionen Bürgerinnen und Bürger mit türkischen Wurzeln in Deutschland auf. Aver ist Programmleiter in der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) an der Universität Duisburg-Essen und arbeitet an Forschungs- und Modellprojekten sowie in der Politikberatung zu Integrations- und Migrationsthemen.

Sowohl  die Türkei als auch Deutschland müssen ein Interesse an Stabilität und Kooperation haben, betonte Aver. Beide Länder sind seit mehr als hundert Jahren durch freundschaftliche Beziehungen miteinander verbunden. So erinnerte Aver an die Verbindung des deutschen Reiches zur Türkei vor dem Ersten Weltkrieg und machte deutlich, dass zahlreiche jüdische Flüchtlinge und Verfolgte des Naziregimes in der Türkei Zuflucht gefunden hätten. Auch ökonomisch seien beide Länder eng verwoben: Knapp 7.000 deutsche Unternehmen hätten so etwa mindestens eine Zweigstelle in der Türkei – in Deutschland haben wiederum  rund 100.000 türkische Unternehmen ihren Sitz; einige dieser Unternehmen befinden sich auch in der Grafschaft Bentheim und im Emsland.

Die über die Jahre gewachsenen wirtschaftlichen Kooperationen seien auch ein Ergebnis der Annäherungspolitik, die von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder initiiert und auf türkischer Seite von der AKP, der Partei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, seit mehr als einem Jahrzehnt vorangebracht wurden. Beide Seiten hätten sich um eine Normalisierung der politischen Verhältnisse bemüht. Dies dürfe weder in der türkischen Community noch in der deutschen Gesellschaft vergessen werden, appellierte Aver.

Dass das vergangene Jahrzehnt in der Türkei von zahlreichen Reformen geprägt gewesen sei, daran erinnerte auch die SPD-Bundestagsabgeordnete; ermutigt zu intensiven Beziehungen, so De Ridder, fühlte sich die AKP auch dadurch, dass ihr nicht nur eine „privilegierte Partnerschaft“ seitens der Bundeskanzlerin Merkel in Aussicht gestellt wurde: „Vielmehr  hatten namhafte Außenpolitiker der Union, allen voran Volker Rühe als damaliger Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, für einen EU-Beitritt der Türkei geworben.  Eine ähnliche Offenheit hatte auch Christian Wulff als Bundespräsident mit dem Satz, der Islam gehöre zu Deutschland, signalisiert, auch wenn er weder davor noch danach als Integrationspraktiker in Erscheinung getreten ist. Zuvor – nämlich 2006 bei der Eröffnung der ersten Islamkonferenz – hatte diesen Satz schon Wolfgang Schäuble ausgesprochen. Sätze wie diese sind es gewesen, auf die sich die Türkei in ihrem Verhältnis zu Deutschland stützte und sich berechtigte Hoffnung darauf machen durfte, nach Abschluss der Verhandlungen auch Vollmitglied in der Europäischen Union werden zu können“, rekonstruiert De Ridder.

Schließlich, so erinnerte Aver, waren die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union offiziell im Oktober 2005 aufgenommen worden. Dadurch verpflichtete sich die Türkei die in Kopenhagen festgelegten politischen Kriterien als Verfassungsprinzip anzuerkennen und damit auch die Werte, auf die sich die EU gründet: Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschenrechte und Minderheitenschutz. Als Beitrittskandidat galt fortan die Respektierung von Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern. De Ridder blickt nun mit Sorge auf die Lage der politisch Verfolgten in der Türkei und macht deutlich, dass es sehr wohl eine Notwendigkeit gibt, unter bestimmten Umständen in Deutschland Schutz zu bieten, wie es etwa die Philipp Schwartz-Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung für verfolgte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tut. Auf der anderen Seite sieht sie die deutsche Politik in der Pflicht, auch zu ihrer Haltung zu stehen.

„Dass sich Merkel nun im TV-Duell mit Martin Schulz dahingehend geoutet hat, dass sie nie eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union befürwortet habe, zeigt zumindest wie unberechenbar die CDU für die Türkei erscheinen muss. Wir müssen also annehmen, dass da über Jahre nur mit der Hoffnung der türkischen Bevölkerung, eines Tages sehr wohl dazu zu gehören, gespielt wurde. Dies rechtfertigt nicht die Beschimpfungen Erdogans gegenüber meinen Bundestagskolleginnen und anderen deutschen Politikerinnen oder die problematische Entwicklung seiner Politik; aber es zeigt, wie sich die Situation stetig zugespitzt hat und dass es dabei auch eine deutsche Verantwortung gibt “, bedauert De Ridder.

Allerdings befürwortet auch die SPD-Bundestagsabgeordnete inzwischen die Aussetzung der Beitrittsverhandlungen der Türkei: „Mit dem Referendum zur Verfassung nach dem Putschversuch im vergangenen Jahr erlebte die Türkei eine deutliche Zäsur in ihrer Entwicklung. Demokratinnen und Demokraten auf der Welt haben den Putschversuch im vergangenen Jahr sehr wohl verurteilt, wie sie heute die Entwicklung hin zu autokratischen Verhältnissen unter Erdogan kritisieren. Dass der deutsche Bundespräsident Dr. Frank Walter Steinmeier bei seiner Amtseinführung die Freilassung deutscher Journalistinnen und Journalisten forderte, allen voran Deniz Yücel, zeigt auch, wie ernst er dieses Thema schon als Außenminister  genommen hat. Und wenn Erdogan unter Beifall seiner Anhänger die Wiedereinführung der Todesstrafe fordert, dann zeigt dies wiederum, dass er das Maß für den europäischen Wertekanon verloren hat. Es war daher nur folgerichtig, dass Martin Schulz als ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments den Stopp der Beitrittsverhandlungen gefordert hat. Es gibt gute Gründe, warum die politische Stimmung aufgeheizt ist und es gibt bessere Gründe, in dieser Situation besonnen zu handeln. Wenn der Reflex siegt, nach Anschlägen und einer gefährlichen Eskalation in Form eines versuchten Militärputsches die Grundrechte zur Terrorabwehr auszuhöhlen, dann verlieren am Ende alle Türkinnen und Türken. Zu den Merkmalen eines wirklich starken Staates gehört es, dass kritische Journalistinnen und Journalisten eine Stimme haben und ihre Arbeit verrichten können. Journalistische Recherchen und Beiträge darüber, ob das eigene Militär im Einsatz Grundrechte Anderer verletzt  oder ob Politikerinnen und Politiker des eigenen Landes in Korruption verwickelt waren, sind keine Terrorpropaganda, sondern essenziell für eine Demokratie. Daran hat sich im Laufe der Jahrhunderte auf der Welt genauso wenig geändert wie an der Tatsache, dass das populistische Einpeitschen in ein  „wir“  und in „ die Anderen“  eine zerstörerische Kraft entfalten kann, der rechtzeitig die Stirn geboten werden muss“, bekräftigt De Ridder.

Demgegenüber verwiese Aver auf die sowohl in der Türkei als auch in Deutschland bestehenden Trennlinien innerhalb der Gesellschaft, die einen wesentlichen Einfluss auf die politischen Entwicklungen hätten. Diese Trennlinien bestünden zwischen säkularen und religionsnäheren Kräften wie auch zwischen Sunniten und Aleviten, unterstrich Aver. Die innertürkische Entwicklung habe jedoch auch unmittelbare Folgen für das Selbstverständnis der türkischen Community in Deutschland. Die dritte Generation der sog. „Gastarbeiter“ fühle sich trotz deutscher oder doppelter Staatsangehörigkeit, und dies zeigte auch die rege und emotionale Diskussion im Saal, oftmals nicht akzeptiert, was wiederum auch in Deutschland zu erheblichen Enttäuschungen führe. Umso mehr, so der Türkeiexperte, müsse für den Dialog innerhalb und außerhalb der türkischen Community geworben werden. Sein Fazit: „Was wir dringend brauchen, ist eine verbale Abrüstung.“

De Ridder dankt Caner Aver für seinen Beitrag und hofft darauf, dass sich die Besonnenheit durchsetzt und dass weitere konstruktive Dialoge folgen werden.

Dr. Daniela De Ridder und Caner Aver

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